Das Märchen vom exponentiellen Wachstum

Die sogenannte „Hockey-Stick-Grafik“ ist unvermeidlicher Bestandteil eines Start-Up-Pitches. Wie aus dem Nichts zeigt das prognostizierte Wachstum so steil nach oben wie der Griff eines Hockeyschlägers, meist aus Gründen, die sich zwischen vage und ausgedacht bewegen. Fast immer dabei: Mund-zu-Mund-Progaganda!

Auch wenn solche Forecasts ein Klischee sind, ab und zu erfüllen sie sich. Wöchentlich hört man von Apps, die genau dieses explosive Nutzerwachstum geschafft haben und Investoren suchen nach Produkten mit „Hypergrowth“-Potential. Einige von ihnen sehen es sogar als gegeben, dass sich der Umsatz in den ersten Jahren verdreifachen muss1.

Als etabliertes Unternehmen, das einfach „nur gleichmäßig“ wächst, kann man neidvoll auf diesen Erfolg schauen, oder zumindest auf die Ambition dahinter. Stetiges, lineares Wachstum? Das erinnert an Familienunternehmen und Tradition, nach „die Kuh melken“. Nicht nach Innovation.

Aber stimmt das? Ist exponentielles Wachstum wirklich der Standard erfolgreicher Start-ups und welche Rolle spielt Viralität bei dem ganzen?

Wachstum unter der Lupe

Spätestens seit der Corona-Pandemie wissen wir, wie exponentielle Wachstumskurven aussehen. Trotzdem hier eine kleine Erinnerung:

Mit diesem Bild im Kopf schauen wir nun darauf, wie sich die Nutzerzahlen großer Plattformen seit ihrer Gründung entwickelt haben.

Facebook

Slack

Twitter

Uber

Instagram

Was sehen wir auf diesen Charts? Lineares Wachstum. So gleichmäßig, dass man ein Lineal daran halten könnte.

Bevor wir nun alle Hockeystick-Grafiken in das Reich der Mythen verbannen, sollten wir bedenken, wie sich der Start dieses gleichmäßigen Wachstums anfühlt. Die Newsletter-Suite ConvertKit wächst seit zum Beispiel seit einer Dekade gleichmäßig und konstant2:

Zoomt man in die Statistik hinein, an die Stelle, als der heutige Wachstumspfad seinen Anfang nahm, landet man … bei einem Hockeystick. Der sich zumindest die erste Zeit ganz wie exponentielles Wachstum angefühlt haben dürfte.

Die spannende Frage ist, was im Spätsommer 2015 passiert ist. ConvertKit gab es da schon fast zwei Jahre, der Umsatz dümpelte vor sich hin. Was wir hier eindrucksvoll sehen, ist der sichtbare Beweis von „Product-Market-Fit“ – dem Moment, in dem ein Produkt einen ausreichend großen Markt findet. Der Gründer Jason Cohen hat eine ganze Reihe von Unternehmen analysiert und ist immer wieder das gleiche Phänomen wie bei ConvertKit gestoßen: „Der Umsatz wächst linear und langsam, oft über einen Zeitraum von etwa zwei Jahren, und dann – im Moment des Product / Market Fits – schnellt er plötzlich nach oben und wächst entlang einer neueren Gerade.“

Wir lernen aus diesen Charts zwei Dinge:

  1. Ein Produkt, das seinen Markt gefunden hat, wechselt den Wachstumskurs. Falls du ein Unternehmen aufbaust und dieser sichtbare Knick in deinen Zahlen noch nicht eingetreten ist, dann hast du wahrscheinlich noch keinen Product-Market-Fit gefunden.
  2. Gleichmäßiges Wachstum ist die Kür. Es kostet die größten Unternehmen der Welt alle Energie, Macht und Kompetenz, die sie aufbringen können. Lass dir nicht einreden, dass lineares Wachstum langweilig ist.

„Wir müssen viral gehen“

Wenn ein Unternehmen wirklich exponentiell wächst, dann ist das ohne Viralität kaum zu schaffen. Ansonsten müsste das Unternehmen jeden Monat viel, viel effektiver in der Akquise von Kunden werden (oder viel mehr Geld ausgeben). Ein Produkt, das „viral geht“, wächst, weil jeder Neukunde mehr als einen weiteren Kunden ins Produkt führt, und zwar dauerhaft. Mathematisch ist diese Rate der sogenannte virale Koeffizient. Liegt er bei 1,1 wächst die Userbase. Liegt er bei 0,9 ist das Wachstum ziemlich schnell erschöpft. Wahrscheinlich sinkt sie sogar, denn schließlich verlassen einige Kunden das Produkt auch wieder.

Wie schafft man echte Viralität? Indem man sie zum Bestandteil des Produktes macht. Die ersten WhatsApp-Nutzer mussten ihre Freunde zur WhatsApp einladen, ansonsten hätte die App für sie selbst keinen Wert gehabt. Gleiches gilt, wenn ich in Google Docs, Notion oder Miro mit Kollegen zusammenarbeiten möchte – ich empfehle das Produkt automatisch, wenn ich ihnen den Link schicke. Diese eingebaute Art von Viralität ist deutlich wirkungsvoller als reine „Mund-zu-Mund-Propaganda“, denn sie fußt auf den Netzwerkeffekten eines Produktes: je mehr Menschen es benutzen, desto wertvoller wird es für den einzelnen User.

Das zeigt: lange nicht jedes Produkt kann viral gehen und das hat nichts damit zu tun, wie innovativ oder wertvoll es ist. Aber selbst Produkte, die perfekt geeignet sind, schaffen nur selten dauerhafte Viralität.

Schaut man sich die Erfolgsgeschichten der heutigen großen Plattformen wie Uber und Spotify an, dann beginnt die steile Wachstumskurve – besser gesagt, die Gerade! – fast immer mit einigen erfolgreichen Presseerwähnungen oder reichweitenstarken Fürsprechern. In seinem Buch Hit Makers erklärt der Jounalist Derek Thompson, dass „vieles von dem, was Außenstehende als Viralität bezeichnen, in Wirklichkeit eine Funktion dessen [ist], was man als ‘Dark Broadcasters’ bezeichnen könnte – Menschen oder Unternehmen, die Informationen an viele Zuschauer gleichzeitig verbreiten.” Anders gesagt: Presse und Influencer.

Ein schon oben genanntes Beispiel dafür ist ConvertKit. Das Newsletter-Tool erzielte den Durchbruch, als Patt Flynn Kunde wurde und das Produkt weiterempfahl – ein perfekter Match, weil seine großen Fans genau zur Zielgruppe von ConvertKit passten. Es muss also nicht immer die New York Times sein, die das Wachstum in Gang bringt. Die ganze Geschichte von ConvertKit haben David Ranftler und ich in dieser Podcast-Folge nachgezeichnet.

Dauerhafte Viralität (viraler Koeffizienz > 1) ist sehr selten und sie hat immer ein Ende. Die Menge an Menschen, die ein Produkt weiterempfehlen können, ist schließlich begrenzt.

Heißt das, dass dein Unternehmen Viralität als Thema abschreiben sollte? Nicht unbedingt. Viralität oder Mund-zu-Mund-Propaganda kann ein Beschleuniger für das Wachstum deines Unternehmens sein und die Gerade etwas steiler machen. Dafür muss der virale Koeffizient nicht größer als 1 sein (gut hier vorgerechnet).

Von Start-ups (und deren Ambitionen) lernen

Das explosive, viral getriebene Wachstum der Silicon-Valley-Stars ist oft nur eine Momentaufnahme der ersten Monate. Anschließend zählt auch bei ihnen stetiges, dauerhaftes Wachstum. Die Digitalisierung hat diesem Wachstum völlig neue Möglichkeit eröffnet. Dein Unternehmen kann diese Möglichkeiten nutzen – egal wie lange das Produkt schon am Markt ist oder ob digital oder physisch ist. Nutzt dein Unternehmen alle Möglichkeiten?


  1. Als „Rezept“ für Weg zum Software-as-a-Service-Unicorn (1 Mrd. Dollar Bewertung) hat sich das Konzept „Triple, Triple, Double, Double, Double“ etabliert: das jährliche Umsatzwachstum wird zwei Jahre lang verdreifacht und dann drei Jahre lang verdoppelt (Quelle). ↩︎

  2. ConvertKit ist u.a. deswegen ein dankbares Beispiel, weil das Unternehmen alle relevanten Umsatzkennziffern seit Bestehen der Firma in einem öffentlichen Dashboard veröffentlicht. ↩︎