Keine Angst vor Utopien


  1. Dystopien sind erfolgreich, weil sie unsere Urängste ansprechen und sich plausibel anfühlen
  2. Auch in der Gesellschaft und in Unternehmen herrscht das dystopische Narrativ: negative Trends werden sich verstärken
  3. Zukunftsmacher dürfen sich von diesem Trend nicht anstecken lassen, sondern müssen den Mut zu konkreten Zukunftsbildern haben

Niemand will Utopien lesen, also Geschichten von einer strahlenden, positiven Zukunft.

Dystopien, Erzählungen von totalitären und chaotischen Gesellschaften, sind jede Woche in den Bestsellerlisten. Wie kann das sein? Warum tun wir uns Hunger Games und Handmaid’s Tale freiwillig an?

Dafür gibt es drei Gründe:

  • Sie sprechen unsere Urängste an. Die chaotischen, streng kontrollierten Gesellschaften von Hunger Games und 1984 haben auf den ersten Blick nichts mit unserem Alltag zu tun, doch die Gefühle und Ängste der Protagonisten kennen wir sehr gut.
  • Sie wirken plausibel. Dystopien schreiben die Gegenwart fort: Wenn X so weitergeht, landen wir am Ende bei Y. Daraus wird beinahe automatisch eine Dystopie, denn auch positive Dinge sind, ins Extrem gezogen, immer dystopisch.1
  • Sie sind niemals „falsch“. Dystopien warnen vor einer Zukunft, die sich niemand wünscht. Das ist, aus Sicht der Autoren, eine äußerst bequeme Situation, denn sie können mit ihrer Idee nicht falsch liegen.

Dazu kommt, dass Dystopien zu unserem Bild von der Zukunft passen. Der Historiker Robert L. Heilbroner hat unsere Sicht auf die Zukunft einmal in drei Phasen eingeteilt:

Zeitraum Blick auf die Zukunft
Resignation Vor 150.000 Jahren Die Zukunft ist genauso wie die Gegenwart. Einer der Gründe, warum Zeitreisen eine neuzeitliche Erfindung sind.
Optimismus 1700 - 1950 Die Zukunft wird besser als die Gegenwart.
Angst ab 1950 Die Zukunft ist unklar und wird womöglich schlechter.

Fortschrittsoptimismus und ein strahlendes Bild von der Zukunft? Das wirkt heutzutage oft naiv, falsch … und einfach lächerlich.

Dystopien sind wichtig, aber nicht die Lösung

Dystopien haben einen Wert. Sie machen greifbar, was passieren könnte, wenn sich bestehende Trends fortsetzen und verstärken. Die klassischen Dystopien werden sie zu einem gemeinsamen Feindbild, das jeder im Kopf hat. Artikel über die computergestützte Kriminalistik starten deswegen häufig mit einem Hinweis auf „Minority Report“. Bei neuen Möglichkeiten zur Massenüberwachung ist von „orwellschen Zuständen“ die Rede.

Besonders „1984“, George Orwells Klassiker, ist eine Art Dystopie-Indikator geworden. In totalitäreren Regimes wie der DDR war das Buch verboten und heute wird es immer dann populär, wenn unsere Gesellschaft in Schieflage gerät. Nach dem Amtsantritt von Donald Trump stiegen die Verkaufszahlen um 9500 Prozent.

Dystopien warnen, und das machen sie sehr gut. Aber sie liefern nur das Problem, keine Lösung. Hunger Games & Co sind zu einer „Fiktion der Hilflosigkeit“2 geworden – Geschichten, die ihre Leser eher verzweifelt als motiviert zurücklassen.

Utopien sagen „Ja“

Utopien, wünschenswerte Zukünfte, funktionieren anders. Die Philosophin Ágnes Heller schrieb einmal: „Alle Utopien sagen ‘Ja’, nachdem sie ‘Nein’ gesagt haben.“3 Sie zeichnen ein konkretes Bild einer möglichen Zukunft.

Wer Utopien vertritt, macht sich angreifbar, denn die eigene Idee kann naiv wirken oder für andere gar nicht so wünschenswert sein. Trotzdem dürfen Zukunftsmacher keine Angst vor Utopien haben. Unsere Zukunft besteht nicht darin, etwas zu vermeiden – sondern etwas bestimmten zu erreichen.

Das kann zum Beispiel sein:

• Eine mutige Idee, wie sich ein dringendes Problem im Bildungswesen, Wohnungsbau, etc. nachhaltig lösen lässt
• Eine konkrete Vision, wie das eigene Unternehmen nachhaltiger wird
• Ein optimistisches Bild von der zukünftigen Zusammenarbeit im Team

Die persönliche Utopie muss nicht groß sein. Nur konkret muss sie sein.

Andere für solche Ideen zu begeistern heißt gegen den Strom zu schwimmen. In den Kaffeeküchen dieses Landes herrscht oft das dystopische Narrativ. Alles wird schlimmer, in der Gesellschaft, in der Firma und im Nachbarhaus erst recht. Diese Schauergeschichten funktionieren genauso wie die großen Dystopien: Sie lassen sich leicht erzählen, erscheinen plausibel und sie passen zum Weltbild, das wir mit uns herumschleppen. Aber es sind „Fiktionen der Hilflosigkeit“, die uns der Lösung keinen Schritt näher bringen.

Zukunftsmacher stellen sich dagegen. Sie beschreiben ein konkretes, wünschenswertes Ziel und laden andere ein, es mit ihnen zu verfolgen. Das ist manchmal unbequem. Optimistisch sein ist Punk 4.

Ist es vielleicht auch einfach naiv?

Sind Utopien naiv?

Utopien haben den Ruf, naiv-opimistisch zu sein. Wie kann man von einer strahlenden Zukunft träumen, wenn sogar der Weltklimarat das 1,5-Grad-Ziel für gescheitert erklärt und wir unsere Zukunft gerade eher retten als gestalten?

Utopien berücksichtigen diese Tatsachen. Sie sind nicht überoptimistisch. Im philosophischen Sinne sind sie sogar pessimistisch, denn ein Pessimist erwartet nicht das schlechte von der Zukunft, sondern gar nichts – weil die Zukunft ungeschrieben ist.5

Utopisten sehen die Welt mit ihren realistischen Chancen, aber auch ihren dunklen Seiten – und beschreiben dann ein Ziel, das mutig, positiv und konkret ist.

Liegen wir mit unseren Utopien manchmal falsch? Ja. Doch wenn wir kein Ziel haben, werden wir auch nirgendwo ankommen.

Was ist deine Utopie?


  1. Wie die Science-Fiction Margeret Atwood einmall schrieb: „Wenn man etwas bis zum logischen Extrem treibt, wird so ziemlich alles deprimierend“ – [[In Other Worlds – SF and the Human Imagination (Margaret Atwood, 2011)]] ↩︎

  2. So nannte das die die amerikanische Historikerin Jill Lepore neulich einmal ↩︎

  3. In Von der Utopie zur Dystopie – Was können wir uns wünschen- (Ágnes Heller, 2016) ↩︎

  4. Jennifer Yoon schreibt dazu: „Wenn Cyberpunk gegen den Optimismus der Nachkriegszeit rebellierte, rebelliert Solarpunk gegen den heutigen strukturellen Pessimismus. Solarpunk gibt es erst seit 2015 und erschafft helle, schöne Welten mit reicher Atmosphäre. […] In einer Welt, die durch den vom Geiz getriebenen Klimawandel verwüstet wird, ist die Rebellion zugunsten von Nachhaltigkeit und Gleichheit vielleicht die punkigste Bewegung von allen.“ – Tales From The Dork Web 4 (Jennifer Yoon, 2020) ↩︎

  5. Der Philosoph John Gray sprach deswegen einmal von einem „hoffnungsvollen Pessimismus“ – Desert Island Discs – John Gray (bbc.co.uk, 2008) ↩︎