Diese 3 Dinge macht Storytelling mit deinem Gehirn

Sie sind überall: Geschichten. In Büchern, Serien und Filmen, aber auch da, wo du sie wahrscheinlich nicht erwartest. Warum? Weil sie der ultimative Brainhack sind.

Der neuzeitliche Siegeszug des Storytellings äußert sich hauptsächlich in Bildern. Zum Beispiel in diesem:

Was Joachim Löw hier verloren hat? Um das zu erklären, möchte ich - natürlich - eine Geschichte erzählen. Die Hauptrolle spielt dieser Mann:

Quelle: The Ronald Reagan Presidential Library and Museum

Roone Arledge, der Mann, der das Fernsehen für immer veränderte. Hier kommt seine Geschichte.

Vom Football-Spiel zum Drama

1960 hatte der junge Fernsehsender ABC die Rechte erworben, College-Football-Spiele zu zeigen. Das war genauso lahm, wie es sich anhört: Amerikanische Uni-Mannschaften haben zwar vor Ort viele Fans, aber zweitausend Kilometer weiter locken sie niemanden vor den Fernseher.

Roone Arledge war 24 Jahre alt und dafür zuständig, dass die Spiele übertragen wurden. Das hieß in den 60ern: Drei Kameras positionieren, einschalten und zum Schlusspfiff wieder einpacken.

Arledge glaubte, dass sich daran etwas ändern musste.

Einige Monate vor dem ersten Spiel schrieb er ein inzwischen legendäres Memo an seine Produzenten. Auf den ersten Blick geht es nur um technische Einzelheiten: Kamerawinkel, Equipment, die Art des Einspielers. Doch in Wahrheit hatte Arledge sich ein neues Fernsehformat überlegt. Statt der bisherigen Dokumentation wollte er “Storylines” schaffen und aus dem lokalen Football-Game ein Drei-Stunden-Drama mit kühnen Helden und tragischen Verlierern machen. Nahaufnahmen und Rückblenden sollten die einzelnen Spieler in den Fokus rücken - und nicht nur die Spieler. Auch den wütenden Trainer, die nervöse Mutter, den angetrunkenen Fan. Mit einer Geschichte, so glaubte Arledge, würde er jeden Zuschauer fesseln können. Selbst den, der sich eigentlich gar nicht für das Spiel interessierte.

Am 17. September 1960 übertrug ABC das erste College-Spiel und zwar genau so, wie Arledge es vorschlagen hatte. Ab diesem Tag veränderte sich Welt der Sportübertragungen. Wenn wir heute bei einer WM-Übertragung den Wutausbruch von Jogi Löw sehen oder bei einer Olympiade die Familiengeschichte des Weitspringers erfahren, dann sehen wir Arledge’s Erbe. Und nicht nur dort.

Genau jetzt, in diesem Moment, wird im Meeting einer Werbeagentur, auf der Redaktionskonferenz einer Tageszeitung und bei der Strategiesitzung eines Unternehmens irgendjemand schreien: “Wir brauchen Storytelling!”

Storytelling: Das ist nicht nur ein Buzzword, sondern ein hochwirksamer Gehirn-Hack. Er führte Arledge ins Weiße Haus (dazu später mehr) und machte Städte, Unternehmen und Staaten erst möglich.

Was steckt dahinter? Warum funktioniert Storytelling? Und was heißt das für unseren Alltag?

Die ungeheuerlichen Tricks des Storytellings

Szenenwechsel. Eine Freundin ruft dich an:

Was geht jetzt in dir vor? Es hängt sicher von der Freundin und ihrer Geschichte ab, aber eines tust du ganz sicher nicht: Du analysierst nicht. Du fragst dich nicht:

  • Ist diese Geschichte wahr?
  • Was möchte der Erzähler mit dieser Geschichte erreichen? Will er mich belehren, manipulieren, überzeugen?
  • Was wird von mir erwartet?

Unser Analysemodus wird ausgeschaltet, wenn wir Geschichten hören - stattdessen tauchen wir ein und glauben das Erzählte “by default”. Und nicht nur das Erzählte selbst, auch die Botschaft dahinter.

Das macht Geschichten zum perfekten Werkzeug, um unsere Überzeugungen zu prägen und möglicherweise auf links zu drehen. Vielleicht kennst auch du den Kettenraucher, den keine Todesstatistik der Welt beeindrucken konnte - bis er die tragische Geschichte eines Lungenkrebspatienten hörte. Oder du kennst den Afd-Wähler, der sich in die komplexen Probleme der Flüchtlingskrise eingrub - bis er schließlich in den Nachrichten das Bild der deutschen Schülerin sah, die von Asylbewerbern vergewaltigt und ermordet wurde.

Die guten Geschichten schreien ihre Botschaft übrigens nicht hinaus. Man erkennt sie erst an ihren Auswirkungen. Mehrere Studien legen zum Beispiel nahe, dass die Harry-Potter-Bücher ihre Leser toleranter gegenüber stigmatisieren Gruppen machten und gleichzeitig für “Voldemort”-artige Typen sensibilisierten (Trump, Putin). J.K hat vielleicht die politische Einstellung einer ganzen Generation geprägt und das wird erst jetzt offensichtlich.

Aber was, wenn uns die Geschichte gefällt, nicht aber ihre Moral? Können wir das Erzählte und die Botschaft im Kopf einfach trennen?

Nein.

Die Psychologin Melanie C. Green erzählte Probanden eine Geschichte und sagte ihnen anschließend, der Autor habe sie mit dieser Geschichte manipulieren wollen. Die Reaktion? Die Zuhörer ärgerten sich, gingen nach Hause - und waren fortan, wie Green bewies, von der Geschichte beeinflusst. Genau wie der angebliche Autor geplant hatte.

Warum um alles in der Welt haben Geschichten solche Superkräfte? Um ehrlich zu sein: Es ist nicht ganz klar. Seit Jahrtausenden erzählen Menschen sich Geschichten, doch was dabei in unseren Köpfen passiert, untersuchen Psychologen erst seit ein paar Jahren. Was jetzt kommt, ist also nur der Stand der Forschung. Aber der ist spannend genug.

#1 Transportation

Auf diesem Bild sehen wir etwas ganz und gar erstaunliches:

Moment. Ist das nicht normal? Dass wir bei einem spannenden Film mitfiebern, lachen und ab und zu eine Träne verdrücken?

Ja, das ist normal - gleichzeitig aber auch vollkommen abgefahren. Schließlich fühlen wir in diesem Moment Dinge, die nicht da sind. Fiebern mit Menschen, die nie existiert haben. Unser Gehirn simuliert Erlebnisse.

Die Wissenschaft des Storytelling nennt diesen Effekt Transportation.

Transportation kostet uns soviel mentale Energie, dass der Analysemodus aussetzt - wir haben schlicht keine Kraft mehr dafür, die Geschichte auch noch zu hinterfragen. Diese Erklärung macht es allerdings nur noch rätselhafter, warum unser Gehirn diesen Effekt einsetzt. Was für einen Vorteil bringt uns die Fähigkeit, Lord Voldemort aus ganzem Herzen zu hassen?

Die Erklärung hängt damit zusammen, dass der Mensch eine hypersoziale Spezies ist. Zu wissen, wie unser Gegenüber denkt, ist für uns überlebenswichtig. Diese Fähigkeit, Empathie, ist wie ein Muskel, für den wir ein ausgezeichnetes Trainingsprogramm haben: Geschichten. Denn mit jeder Geschichte üben wir, uns in andere Menschen hineinzuversetzen. Wir lernen Strategien kennen, die in den verschiedensten sozialen Umfeldern funktionieren - oder in die Hose gehen.

Das räumt mit dem Klischee der Leseratte auf, die sich in realitätsferne Welten flüchtet und dann im echten Leben nicht mehr klar kommt. Das Gegenteil ist der Fall: Geschichten bereiten uns auf das echte Leben vor. Das ist ihre Aufgabe.

#2 Resolution

Egal, wie eine Geschichte ausgeht, sie muss ausgehen. Die letzte Buchseite endet in einem Cliffhanger? Der Autor wird Morddrohungen bekommen.

Auch hierfür ist unser Gehirn verantwortlich. Sogenannte “Open Loops”, offene Fragen und ungelöste Probleme, haben in unserem Hirn eine Sonderstellung. Wir erinnern uns besonders gut an sie, besser als an abgeschlossene Tätigkeiten, und fühlen uns erleichtert, wenn wir sie abhaken können. Geschichten bieten uns dieses Gefühl der Erleichterung.

Es ist beachtlich, mit wie vielen Fragen und Rätseln eine Geschichte inzwischen jonglieren darf. Die Netflix-Serie Dark zum Beispiel präsentiert dem Zuschauer 28 Figuren, deren Lebensgeschichten eng miteinander verwoben sind und in jeder Folge neue Fragen aufwerfen. Zuweilen verlieren die Drehbuchautoren solcher Serien selber den Überblick und bemerken nicht, dass einer der vielen Plotstränge am Ende nicht abgeschlossen wird. Wer es auf jeden Fall merkt, ist der Zuschauer. Wir wollen Auflösung, Klärung, Abschluss - das also, was uns im Alltag oft verwehrt bleibt.

#3 Meaning

Wie interpretierst du dieses kurze Video?

Eine richtige Lösung gibt es nicht, außer vielleicht die: Das Video zeigt nichts von Bedeutung. Ein paar abstrakte Formen in Bewegung, mehr ist nicht zu sehen. Trotzdem gibt es keinen Menschen auf der Welt, der in diesen Formen keine Geschichte sieht. Das große Dreieck ist ganz offensichtlich aggressiv, es drangsaliert das kleine Dreieck, der Kreis ist verschreckt. Manche Zuschauer interpretieren eine Dreiecksbeziehung hinein, andere ein Familiendrama.

Was nichts daran ändert, dass die Geschichte ausschließlich in unserem Kopf entsteht. Dort nämlich sitzt ein Organ, das danach giert, Bedeutung, Charaktere und Geschichten zu sehen - selbst da, wo es nichts zu sehen gibt.

Geschichten erfüllen dieses Bedürfnis. Sie pressen die Welt in einen logischen, vernünftigen Rahmen: A führt zu B, B führt zu C. Zufälle sind in Geschichten nicht gern gesehen, denn das wäre “unrealistisch”.

Dabei passieren in der Welt ständig Zufälle. A führt überhaupt nicht immer zu B, und selbst wenn, dann ist das oft nur in der Retrospektive erkennbar.

Geschichten aber sind logischer als die Welt - es wird erwartet von ihnen. Was uns zu der Frage führt, ob eine Welt, in der jeder mit Geschichten hantiert, Nachteile haben könnte.

Welchen Geschichten hören wir zu?

Zurück zu Roone Arledge. Nach dem Erfolg von Wide World of Sports “storyisierte” er zunächst ein Sportformat nach dem anderen. Ende der 70er wechselte er dann in eine Branche, die bis heute behauptet, mit Geschichten nichts am Hut zu haben - die Welt der Nachrichten.

Auch hier ging sein Rezept auf. ABC News, ein Sorgenkind des Senders, wurde zur erfolgreichsten Nachrichtensendung der USA und Arledge so wichtig, dass Ronald Reagan ihn im Weißen Haus empfing.

Arledge hat das Geschichtenerzählen weder entdeckt noch neu erfunden. Er trug lediglich zu einer Entwicklung bei, die jetzt ihren Höhepunkt findet: Der Industrialisierung des Storytellings. Jahrtausendelang haben wir Geschichten intuitiv benutzt, um anderen etwas zu verkaufen - unsere Meinung, unsere Religion, unsere Dienstleistung. Doch jetzt ist Storytelling ein Handwerk geworden, das immer mehr Branchen gut verstehen und treffsicher einsetzen.

Das ist nicht zwangsläufig schlecht. Du solltest diesen Trick aber kennen. Wenn wir uns erst einmal auf eine Geschichte eingelassen haben, setzt der Analysemodus unseres Gehirns aus - daran lässt sich nichts ändern.

Es liegt an dir, welchen Geschichten du zuhörst.

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