Business & Strategy

Tempolimit – das große Missverständnis


Artikel teilen

Viel wurde schon über das Tempolimit diskutiert, doch eine wichtige Frage wird ignoriert: Was würde das Tempolimit für den technologischen Fortschritt bedeuten?

Viel wurde schon über das Tempolimit diskutiert – wie viel CO₂ wir darüber einsparen und wer überhaupt die ganzen Schilder malen soll. Doch eine wichtige Frage haben die Menschen, die das Gesetz verabschieden könnten, ignoriert: Was würde das Tempolimit für den technologischen Fortschritt bedeuten? Ich glaube, nur Gutes.

Warum Autofahren heute sicherer ist

Wenn du 1970 in ein Auto gestiegen bist, dann war die Wahrscheinlichkeit, dass du die Fahrt nicht überlebst, zwanzigmal höher als heute. Zwanzigmal! 1 Bis Anfang der 70er stieg die Zahl der Verkehrstoten jährlich. Rekord: 23.000.

Aber dann, ab 1972, sank die Wahrscheinlichkeit im Straßenverkehr zu sterben. Auf den ersten Blick scheint das am Tempo-Limit zu liegen – das wurde nämlich 1972 auf deutschen Landstraßen eingeführt. Aber das erklärt nur den ersten, großen Knick, nicht den Rest der Statistik. Was diese Grafik zeigt, ist der Erfolg von vielen, einzelnen Maßnahmen – von Airbag bis ABS, von Gurtpflicht bis Promillegrenze.

Allein hätte die Autobranche das niemals hinbekommen. Das klingt unfair, ich weiß. Aber ich habe einen Beweis – nämlich die Geschichte des Sicherheitsgurts.

„Anschnallen“ ist heute ganz normal, das wissen schon die Kleinsten („und auch der Onkel Kurt 🎶“). Das war nicht immer so. Viele Organisationen und Einzelkämpfer haben für eine Gurtpflicht gekämpft, jahrelang und weltweit. Diese Gurt-Advokaten kamen aus allen möglichen Bereichen, mit einer Ausnahme: ausgerechnet die Autobauer haben bei der Gurtpflicht keine Rolle gespielt.2

Wollten die Autobauer keine sicheren Autos verkaufen? Doch, natürlich, und sie haben es teilweise durchaus versucht. Ford vertrieb zum Beispiel Mitte der 50er Jahre einige Modelle mit „Lifeguard“-Optionen, darunter auch den Sicherheitsgurt. Das Problem: niemand hatte Interesse. „Wir verkaufen Sicherheit“, sagte Henry Ford II genervt, „aber Chevrolet verkauft Autos.“3 In den USA starben damals mehr Menschen im Straßenverkehr als noch einige Jahre zuvor an Tuberkulose, trotzdem war Sicherheit kein Verkaufsargument.

Ich kann Henry Ford II verstehen: Geld und Forschung in etwas zu stecken, das sich nicht verkauft, ist kein Erfolgsrezept.

Tempolimit und Gurtpflicht haben deswegen einen Paradigmenwechsel eingeleitet. Wenn sowieso alle Autohersteller einen Sicherheitsgurt anbieten müssen, dann ergeben sich für die Firmen daraus zwei Vorteile:

  1. Sie müssen nicht mehr versuchen, ihren Gurt als „Feature“ zu verkaufen
  2. Sie können sich über besondere Sicherheits-Features abgrenzen. Weil jetzt endlich allen klar ist: Sicherheits-Features funktionieren.

Das ist eine der Aufgaben von Regulierung: Innovation ermöglichen. Und es hat funktioniert! Ab den 70ern kamen Sicherheits-Features mehr und mehr aus der Autobranche, sie wurden nicht mehr von außen „hineingedrückt“ – vom ABS-System der deutschen Firma Bosch bis zu scheinbaren Selbstverständlichkeiten wie Isofix, einem Standard zur Befestigung von Kindersitzen.

Das Ergebnis sieht man in der Grafik oben. Die Autobranche sorgte für mehr Sicherheit als es Gesetze je geschafft hätten, aber ohne Gesetze hätte die Autobranche damit nicht angefangen.

Viele Menschen in der Politik verstehen diese Kraft der Regulierung nicht. Sie denken, man sollte die innovativen und cleveren Firmen möglichst in Ruhe lassen – es sei denn sie machen etwas wirklich Unmoralisches (Giftmüll in den Fluss kippen). Die unbequeme Wahrheit ist: Die Unternehmen sind nicht das Problem. Sondern wir Verbraucher. Weil wir uns – als Gesamtheit – immer für die günstigere Wurst, das billigere T-Shirt, das schnellere Auto entscheiden.

Natürlich kann ein Unternehmen sagen: „Wir verkaufen jetzt Nachhaltigkeit / Sicherheit / Fairness“. Das hört sich in Ted Talks und LinkedIn-Posts super an und kann in der Nische funktionieren – aber nur selten im Massenmarkt. Siehe Henry Ford.

Regulierung dreht das Spiel. Regulierung ermöglicht Firmen, auf nachhaltige, richtige Lösungen zu setzen, weil sie die Gefahr aushebelt, dass die Konkurrenz weiter ihren Giftmüll in den Fluss kippen kann.4

Was hat das jetzt alles mit dem Tempo-Limit zu tun? Zweite Statistik …

Schneller, breiter, dicker

Die Autos in Deutschland werden immer schneller. Und das, obwohl die Hälfte von uns schon jetzt für ein Tempolimit ist. Wie passt das zusammen?

Es liegt daran, dass Geschwindigkeit immer noch ein Punkt auf der Feature-Liste ist. Das führt zu einer absurden Situation: jeden Tag sitzen die Befürworter eines radikalen Tempolimits in deutschen Autohäusern, haben die Wahl zwischen dem etwas langsameren und dem sehr schnellen Auto – und entscheiden sich für das schnelle. Denn vielleicht hat man’s ja doch mal sehr eilig?! Und PS sprechen schließlich für Qualität. Irgendwie.

Natürlich kann ich als Autohersteller sagen: Schluss, aus, ich mach bei diesem Wettrüsten nicht mehr mit. Nur … wie soll das gehen? Einfach die langsamsten Autos der Branche bauen?

Sascha Pallenberg hat das in einer sehr hörenswerten Podcast-Folge gut erklärt:

Wenn wir ein Tempolimit auf unseren Autobahnen einführen, dann wird die deutsche Industrie innerhalb einer Dekade Lösungen auf selbige packen, die den Wettbewerb nicht über PS und Höchstgeschwindigkeit volley nimmt, sondern bezüglich Effizienz, Nachhaltigkeit und Sicherheit.

Das! Ein Tempolimit würde die Höchstgeschwindigkeit von der Feature-Liste streichen, sodass ein Auto sich endlich nicht mehr darüber definiert.

Natürlich könnten wir auch darauf warten und hoffen, dass die Branche das allein hinbekommt. Dass einer der bestehenden Player – oder ein neuer – das Wettrüsten unterbricht.

Aber vielleicht braucht es auch einen Stupser in die richtige Richtung. Wie 1972.

Ich fürchte, viele in der Politik verstehen nicht, wie Regulierung funktioniert. Sie kennen die oben genannten Statistiken und Zusammenhänge nicht.

Das ist ok. Aber dann sollte mal vielleicht nicht darüber entscheiden dürfen, ob es ein Tempolimit gibt.

Mehr dazu


  1. Die Unfälle mit Personenschaden und Verunglückte je 10 000 Kfz sank von 10,8 (1970) auf 0,5 (2020) : Verkehrsunfälle Zeitreihen (Statistisches Bundesamt, 2021)  ↩︎

  2. „The most striking thing about the story of car safety, though, is the one group that is almost entirely missing from the list of the seat belt’s main proponents: the automotive industry itself. […] Instead, the progress had to be fought for by outsiders, battling opposing forces to make the case for it.“ – in Extra Life – A Short History of Living Longer (Steven Johnson, 2021) Eine rühmliche und wichtige Ausnahme bildet hier Volvo, die den Dreipunkt-Gurt erfunden haben  ↩︎

  3. Henry Ford II sagte: „McNamara is selling safety, but Chevrolet is selling cars“, bezogen auf den damaligen CEO Robert McNamara. Auch wenn ihm das Zitat oft zugeschrieben wird, ist unklar, ob er es wirklich selbst gesagt hat.  ↩︎

  4. Diesen griffigen Vergleich habe ich aus dem Buch Post Corona – Von der Krise zur Chance (Scott Galloway, 2021)  ↩︎