- Plattformen bringen Bedürfnisse und Ergebnisse zusammen. Dafür speichern sie unsere Kontakte („Social Graph“) und Interessen („Interest Graph“).
- Plattformen wie Instagram und Twitter bieten alles aus einer Hand: Social Graph, Algorithmus und exklusive Inhalte. Deswegen müssen sich Anwender, die von einer Plattform zu anderen wechseln, den Feed von neu aufbauen.
- Das Fediverse entkoppelt Algorithmus, Social Graph und Inhalte. Das ermöglicht ganz neue Geschäftsmodelle und Dienste.
Was haben Instagram, Amazon und Google gemeinsam? Antwort:
„Sie schöpfen in dem Maße Wert, wie sie bedeutungsvolle Verbindungen generieren“.
Bedeutungsvolle Verbindungen sind solche, die nur durch die Plattform zustande gekommen sind:
- Google zeigt mir Webseiten, die ich vorher nicht kannte
- Amazon liefert mir Angebote, die es nirgendwo anders gibt.
- Instagram liefert mit minütlich neue Reels, die es
nirgendwo andersteilweise nicht auch auf Tiktok gibt.
Plattformen bringen Bedürfnisse und Ergebnisse zusammen, meist mithilfe eines Algorithmus. Der Algorithmus wiederum nutzt häufig einen „Graphen“ – eine digitale Landkarte meiner Kontakte (Social Graph) und Interessen (Interest Graph).
Plattformen können diese Graphen nicht schaffen, denn schließlich gehören meine Interessen mir, ob sie nun besonders originell sind oder nicht. Es gab meinen Graphen schon, bevor die Plattform überhaupt existierte und ich werde ihn mit mir ins Grab nehmen.
Plattform nutzen diesen Graphen, und das auf sehr unterschiedliche Weise. Google zum Beispiel verarbeitet meine Suchanfrage, mixt etwas von meinem Interest Graphen hinzu und führt mich dann zu einer Website, die nichts mehr mit Google zu tun. Kann ein Link eine „bedeutungsvolle Verbindung?“ sein? Da Google mit solchen Links 225 Milliarden Dollar im Jahr (!) verdient: offensichtlich schon.
Spotify, TikTok und Instagram funktionieren da anders. Die Videos, Bilder und Texte der Instagram-Plattform liegen nicht irgendwo im Internet herum, sondern nur bei Instagram. Solch geschlossene Plattformen bieten alles aus einer Hand:
Diese Strategie schränkt zunächst erst einmal drastisch ein, was die Plattform überhaupt miteinander verbinden kann. Gleichzeitig gibt es ihr einen riesigen Vorteil: Sie kann sich meinen Graphen zu eigen machen.
Halt, stopp, hatten wir nicht gesagt, dass meine Interessen und Kontakte mir gehören? Jaja. Aber die maschinenlesbare Form davon steckt nun in der Facebook-Datenbank und ich kann sie nicht einfach zu einer anderen Plattform mitnehmen. Ich müsste wieder ganz von neu beginnen.
Das ist der sogenannte „Lock-In“-Effekt und natürlich schmeckt er vielen überhaupt nicht. Die EU zum Beispiel gewährt deswegen ein Recht auf „Datenportabilität“, was heißt, dass ich meine persönlichen Daten und den kompletten, bisherigen Feed zu einer anderen Plattform mitnehmen kann. Theoretisch. Praktisch nicht, aber das ist auch egal, weil sowieso niemand daran interessiert ist, seinen alten Feed irgendwo hin mitzunehmen. Was die Leute mitnehmen wollen, ist ihr Social Graph. Denn ansonsten müssen sie sich ihren Feed säuberlich neu aufbauen.
Leider verbietet das oben erwähnte Gesetz genau das. Schließlich haben meine Freunde ja nicht darin eingewilligt, dass ich ihre Kontaktdaten auf einer x-beliebigen Plattform hochladen. Die Regulierung ist hier durchaus sinnig, verstärkt aber nur den Lock-in-Effekt.1
Geänderte Spielregeln
Das Fediverse will all diese Probleme lösen. Die Idee hinter dem Fediverse ist beinahe so alt wie das Netz selbst und wurde im Laufe der letzten Jahre, besonders durch den Aufstieg von Mastodon, immer bekannter. Trotzdem haben die meisten Online-User das Wort „Fediverse“ noch nie gehört – bis zum letzten Wochenende. Als sich 100 Millionen Menschen für das neue Social Network von Instagram, Threads, angemeldet haben, lasen sie diesen Satz:
Zukünftige Versionen von Threads werden mit dem Fediverse funktionieren. Das Fediverse ist eine neue Art von Social Media-Netzwerk, das Nutzern erlaubt, sich gegenseitig auf unterschiedlichen Plattformen wie etwa Mastodon zu folgen und miteinander zu interagieren.
Was ist dieses Fediverse? Es ist die Möglichkeit, sich einen Social Graph aufzubauen, der nicht auf einzelne Plattform beschränkt ist. Wie das genau funktioniert, würde den Umfang dieses Artikels sprengen (was genau ein Problem des Konzepts ist), aber der Einfachheit gehen wir davon aus, dass das Fediverse ähnlich wie E-Mail funktioniert. Ich kann jedem schreiben folgen, der eine E-Mail-Adresse hat bei einem Sozialen Netzwerk angemeldet ist … und es funktioniert einfach.
Threads wird sich also wirklich mit anderen Sozialen Netzwerke verbinden können und das ist eine Zeitenwende 2. Vor allem, wenn man berücksichtigt, warum die Macher der App sich dazu entschieden haben. Nicht weil eine Regulierungsbehörde oder Monopolkommission sie dazu gezwungen hat (wie im Fall der Messenger), sondern weil die Macher das für den zeitgemäßen Weg halten:
„Wenn Sie sich eines Tages entscheiden, Threads zu verlassen, sollten Sie Ihr Publikum mitnehmen können. [Wir wollen] ein Ort sein, an dem man nicht das Gefühl hat, dass man uns für immer vertrauen muss. [..] Ich glaube, dass dies die Richtung ist, in die es allgemein geht.“
Wenn das Fediverse die Richtung ist, „in die es allgemein geht“, dann ergeben sich daraus ganz neue Geschäftsmodelle und Dienste – weil nämlich der Social Graph, Algorithmen und Inhalte voneinander entkoppelt werden. Hier einmal vier mögliche Modelle, die denkbar sind:
1️⃣ Der perfekte Feed.
Wertversprechen: Das beste für dich aus allen Social Networks.
TikTok beweist, dass ein Social Network auch ohne Social Graph funktioniert. Es reicht, die Nutzerinteressen zu erfassen und mit allen Inhalten eines Netzwerks zu matchen. Das Spannende an einem „Tiktok fürs Fediverse“ wäre, dass die Inhalte gar nicht von der Plattform selbst kämen – die macht „nur“ den Algorithmus. Das ebnet den Weg für viele, kleinere Apps. Die dürfen sich übrigens auch gerne nicht wie Tiktok anfühlen 🙏.
2️⃣ Filter als Dienstleistung
Wertversprechen: Dein Feed von {Mastodon / Threads / …}, abzüglich Hate.
Moderation wurde einmal als „das Hauptprodukt“ jeder sozialen Plattform bezeichnet3. Man kann die Arbeit dahinter …
- zentral steuern (das macht Facebook)
- an moderierte Communites auslagern (das macht Mastodon)
- sie zu seinem Produkt machen. Manche glauben, dass „Moderation as a Service“ eine zukünftige Branche sein könnte.
Würde ich mir eine App herunterladen, die meinen Feed automatisch von Hatespeech befreit? Definitiv.
3️⃣ Gated Community+
Wertversprechen: Exklusive Inhalte, zusammen mit dem gesamten Fediverse.
Genau das macht Threads, aber das Konzept funktioniert nicht nur mit 100 Millionen Usern. Jede denkbare Nische – von Aachener bis Zahntechniker – könnte in Zukunft ein „eigenes“ Social Network bekommen, mit speziellen Funktionen und Inhalten. Die Anwender können dann entscheiden, welche Posts sie mit der großen, weiten Welt teilen und welche nur in ihrem Kosmos.
Diese Gedankenspiele zeigen: neue Arten von Apps sind denkbar und es ist auch nicht unrealistisch, dass man mit ihnen Geld verdienen kann. Zurzeit muss sich das Fediverse noch anhören, dass es wenig Möglichkeiten zur Monetarisierung bietet. Und wenn man auf eine zentrale, große Gelddruckmaschine hofft, wie Facebook sie ist, dann stimmt das wohl auch.
Aber wollen wir die überhaupt? Wäre es nicht schön, wenn die Zukunft aus vielen, erfolgreichen Geschäftsmodellen besteht? Für mich ist das eine rhetorische Frage.
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Das Gesetz garantiert „he right to data portability shall not adversely affect the rights and freedoms of others – Guidelines on the right to data portability ( Working Party Article 29, 2017). Ben Thompson schreibt dazu: „Dies verbietet, was ich vorgeschlagen habe: die einfache Neuerstellung des eigenen sozialen Graphen in anderen Netzwerken.[…] Die wertvollsten Daten (jedenfalls aus Business-Sicht) sind der Social Graph und nicht die Updates und Bilder, die jetzt portabel sein müssen, was wiederum bedeutet, dass die Position von Facebook dank der (vernünftigen!) Regulierung sehr viel sicherer ist.“ – The GDPR and Facebook and Google, Intelligent Tracking Prevention, Data Portability and Social Graphs (Ben Thompson, 2017) ↩︎
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Es ist nur eine Ankündigung, aber ich (und die meisten Branchenkennenr) nehme ihnen ab, dass sie intensiv daran arbeiten. Das Chaos bei Twitter war einfach zu verlockend, um den Start von Instagram Threads nicht vorzuziehen, auch wenn die Fediverse-Anbindung noch nicht steht. ↩︎
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„In many ways, content moderation is the primary product of any social business“ – Can ActivityPub save the internet- (David Pierce, 2023) ↩︎