Apps, die nichts mehr überraschen kann


  1. Softwareprodukte entstehen, indem Produktmanager die vermeintlichen Wünsche ihrer Kunden in Code gießen, teilweise ergänzt durch KI.
  2. AI-Powered Apps ändern dieses Paradigma: Handgeschriebener Code liegt auf einem KI-Unterbau und greift nur an ganz wenigen Stellen ein.
  3. OpenAI möchte dafür sorgen, dass solche KI-getriebene Produkte zum Mainstream werden.

Der Erfolg von ChatGPT ist ein Fall für die Geschichtsbücher, und das aus zwei Gründen: es ist die erfolgreichste Verbraucher-Anwendung aller Zeiten und es wollte niemals eine Verbraucher-Anwendung sein. OpenAI hatte ChatGPT eigentlich als Demo veröffentlicht, um Softwareentwickler und Produktmanager für die Technologie zu begeistern.

Inzwischen muss man niemanden mehr für AI begeistern und OpenAI-Technologie steckt in immer mehr Apps. Das beschränkt sich allerdings meist noch auf „KI-Feenstaub“, den die Produktemacher auf fertige Applikationen streuen. Software entsteht immer noch wie vor vierzig Jahren: Menschen machen sich Gedanken über ein Problem, anschließend gießen sie die Lösung in ein Programm.

Doch nun könnte sich ändern, was Produktentwicklung eigentlich ist.

Apps, die nichts mehr überrascht

Anfang des Jahres haben viele Produktdesigner die Aufgabenstellung „AI einführen“ erfüllt, indem sie möglichst viele Textfelder in Chatbots umwandelten. Ich war da von Anfang an skeptisch und OpenAI offensichtlich auch. Auf der ersten Entwicklerkonferenz der Firma stellte Open-AI-Mitarbeiter Roman Huet den „Einklang von UI und AI“ vor, und zwar mithilfe einer neuen Schnittstelle. Mit wenigen Codezeilen schuf Huet einen Reiseassistenten, der …

  • … Reisetipps auf einer Karte anzeigt
  • … hochgeladene PDFs automatisch analysiert
  • … mathematische Fragen korrekt beantwortet („was ist mein Anteil, wenn wir gemeinsam dieses Airbnb mieten?“)

Auf den ersten Blick klingt das nicht besonders magisch. Was sollte daran so schwer sein, einen Preis durch fünf zu teilen? Tatsächlich ist das eine leichte Aufgabe, erst recht für einen Computer, aber der Computer braucht dafür Software-Code. Und diesen Code muss ein Mensch verfasst haben. ChatGPT hingegen erkennt selbst, dass hier ein mathematisches Problem vorliegt und schreibt sich, in diesem Moment, den nötigen Code, um zum Ergebnis zu kommen.

OpenAI hat hier kein aufgepimptes Chat-Interface präsentiert, sondern eine App, die nichts mehr überraschen kann. Das ist eine Revolution.

Heute Softwareprodukte entstehen in folgender Reihenfolge:

  1. Produktmanager antizipieren, was Kunden wohl von ihrem Produkt erwarten 1
  2. Programmierer setzen diese Anforderung mühevoll in Code um. Und ja, ein PDF-Analyse-Algorithmus kann da schon mal mehrere Wochen kosten.
  3. Die ersten Kunden kommen und beschweren sich darüber, dass neun von zehn wichtigen Funktionen fehlen.
  4. Zurück zu Schritt 1.

Natürlich unterstützt das Betriebssystem mit vielen Funktionen, doch die Grenzen einer App sind trotzdem eng gesteckt. Eine „ultimative Schnittstelle“, wie OpenAI sie bietet, ändert das. Die Künstliche Intelligenz springt immer ein, wenn etwas Unvorhergesehenes passiert und zwar meist zufriedenstellend. Das verändert, wie neue Apps entstehen.

Eine neue Art, Apps zu entwerfen

Erfolgreiche Apps bekommen ihre Fähigkeiten durch handgeschriebenen Software-Code – manchmal ergänzt durch etwas AI-Magie. Folgt man der Vision von OpenAI, ändert sich das grundlegend. Handgeschriebener Code liegt jetzt auf einem KI-Unterbau und greift nur an ganz wenigen Stellen ein.

Das verändert einerseits, was wir den „Feature-Umfang“ eines Programms nennen:

Traditional Apps AI Powered Apps
Können eine Sache besonders gut Können eine Sache besonders gut und alles andere in Ordnung
Features nachreichen, die nachgefragt werden Features feinschleifen, die die AI nicht gut genug übernimmt

Es ändert aber auch, wer überhaupt Applikationen erstellen kann. Ein Programm zu schreiben, das einen AirBnB-Preis durch fünf teilt, ist für die meisten Menschen auf diesem Planeten eine unlösbare Aufgabe. Wenn Einzelpersonen „mal eben“ Programme bauen könnten, die ihr bestimmtes Problem löst, wären wir nicht nur effizienter – die Welt wäre reicher an verrückten Ideen.

Warum arbeitet OpenAI nicht nur an ChatGPT?

Warum investiert OpenAI in die Möglichkeit, solche Apps zu bauen und beschränkt sich nicht darauf, das eigentliche Language Model zu verbessern? Es gibt drei naheliegende Gründe dafür:

  • Das Modell ist „fertig“: Mit dem aktuellen Stand der Forschung kann ChatGPT nicht mehr viel verbessern, auch nicht durch noch mehr Daten (es gäbe auch nicht mehr viel Daten, die OpenAI noch nicht abgegrast hätte).
  • Abhängigkeiten schaffen: OpenAI spielt das klassische Plattformspiel, indem es Entwickler mit günstigen Preisen und neuen Möglichkeiten an sich bindet.
  • Ideen klauen: OpenAI überlässt Start-ups die kreative Arbeit und und integriert ihre Ideen dann in das eigene Produkt – eine Strategie, die bei Apple eine derart lange Tradition hat, dass sie dort einen eigenen Namen trägt (Sherlocking)

Ich kenne natürlich die Motivation von OpenAI nicht (und sie selbst vielleicht auch nicht), aber ich möchte eine vierte Strategie in den Ring werfen: OpenAI sorgt dafür, dass AI-basierte Applikationen zum Mainstream werden. Der Trello-Gründer Joel Spolsky schrieb vor über zwanzig Jahren:

Clevere Unternehmen machen Ergänzungen zu ihrem eigenen Produkt zur Massenware. Dann steigt die Nachfrage nach dem Produkt und das Unternehmen kann höhere Preise verlangen.

Das ist der Grund, warum IBM seine originale PC-Architektur so gut dokumentierte – damit andere Hersteller passende Bauteile entwickeln konnten. Und es erklärt, warum Apple den App-Store geschaffen hat. Weil erfolgreiche Apps mehr iPhones verkaufen.

OpenAI lässt sich nicht länger auf den Kampf ein, wer das beste Large Language Model hat. Ihnen geht es darum, Vorherrschaft zu gewinnen, in einer ganz neuen Art, Apps und Interfaces zu entwickeln. Das kann man kritisch sehen, denn wir sehen gerade dabei zu, wie im Schnelldurchlauf ein Monopol entsteht. Es wird uns eines Tages die gleichen Probleme bescheren wie die, die wir jetzt schon mit Facebook und Amazon haben.

Und ChatGPT? Es wird weiter wachsen, aber ich gehe davon aus, dass es mehr und mehr zu dem wird, was es ursprünglich sein sollte: eine Demo für das, was möglich ist.


  1. Natürlich steckt dahinter, die richtigen Wünsche zu antizipieren, sehr viel Arbeit. Es ist in einem Satz die Aufgabenbeschreibung eines Produktmanagers. ↩︎