Digitalisieren heißt nicht, Papier einzusparen

Wenn die deutsche Politik Digitalisierung fordert, geht es ihr oft und zuallererst um eine Sache: Papier zu sparen. Der Personalausweis gehört aufs Handy! Ausgedruckte Arbeitsblätter sind nicht mehr zeitgemäß! Und natürlich „kann es keine Deutschlandtickets in Papierform geben“ – Volker Wissing formuliert diese Entscheidung wie ein Naturgesetz.

Dieser Sicht liegt ein Missverständnis zugrunde. Papierreduktion ist sicherlich ein Mehrwert der Digitalisierung. Es ist nur fast der unwichtigste.

Das kann man gut an einem Klassiker der verpassten Digitalisierung sehen: dem deutschen Versandhandel.

Schatz, die neue Quelle-CD ist da.

Als das Internet den Sprung von den Universitäten in die Haushalte machte, waren Versandhändler die ersten, die die Neuerung dankbar annahmen. Und zwar, weil sie fast nichts verändern mussten. Der Quelle-Katalog mit der Frühjahrskollektion blieb der gleiche, aber bestellt wurde nicht mehr über das Telefon, sondern per CD-ROM …

… oder über ein elektronisches Bestellformular auf quelle.de:

Diese Neuerungen änderten nichts an dem, was Ökonomen die „Wertschöpfungskette“ nennen – im Fall des Versandhandelns das ganze Zusammenspiel von Lagerhaltung bis Retourenmanagement. Diese Kette hatten sich Quelle, Neckermann und Otto über Jahrzehnte aufgebaut und sie wurde, wie Matthias Schrader es beschreibt, „lediglich elektrifiziert“.1 Mit großen Vorteilen für die Händler, denn sie sparten dadurch Papier und Prozesse ein. Digitalisierung abgeschlossen! ✔Oder?

Natürlich nicht. Digitalisierung entfaltet dann seine Kraft, wenn es die oben beschriebene Kette auseinanderreißt. Und das passiert fast automatisch – denn was die Wertschöpfungskette zusammenhält, sind die Kosten. Quelle & Co boten alles aus einer Hand, von Katalog bis zur Retoure, weil das am kosteneffizientesten war.2 Doch was, wenn die Kosten, um ein neues Produkt in den Katalog zu schubsen, gegen null gehen – weil dafür kein neuer Katalog notwendig ist, sondern nur ein neuer Eintrag im Online-Shop? Und was, wenn jedes Unternehmen mit wenig Aufwand solche Online-Shops aufsetzen kann? Dann bricht die Kette auseinander. Und auf den einstigen Teilstücken entstehen ganz neue Geschäftsmodelle.

Heute kann jedes Kleinstunternehmen mit wenigen Klicks einen Online-Shop erstellen oder seine Produkte auf einem Marktplatz wie Amazon vertreiben. Die Produkte, die den Kunden ausgespielt werden, kommen nicht mehr aus vorgeplanten Saisonkollektion, sondern bestehen aus personalisierten Empfehlungen. Selbst Lagerung und Kommissionierung kann man sich bei Dienstleistern einkaufen. Jeder kann Quelle sein. Und Quelle gibt es nicht mehr.

Wenn aber nun ein Start-up diese Klaviatur beherrscht und trotzdem – warum auch immer – einmal im Jahr einen Katalog an seine Kunden verschickt, ist es dann nicht mehr digital? Natürlich schon. Dieses Unternehmen ist digitaler als es das Versandhaus Quelle jemals war. Bestell-CD-ROM hin oder her.

Prozesse statt Papier

„Es kann keine Deutschlandtickets in Papierform geben“ – auf die Kritik, dass das ja alle Menschen ausschließe, die kein Smartphone hätten, entgegne Verkehrsminister Volker Wissing, das Ticket werde es auch als Chipkarte geben: „Digital heißt ja nicht nur per Handy“. Stimmt, doch erst andersherum wird ein Schuh draus: Eine Chipkarte bringt noch keine Digitalisierung. Die große Chance der Digitalisierung liegt nicht darin, dass wir Papier loswerden, sondern dass wir die Prozesse hinter dem Papier neu denken.

Aber diese Prozesse kann man nicht anfassen, nicht in Händen halten. Und so reden wir lieber darüber, dass Personalausweis und Führerschein ganz dringend aufs Handy müssen – ohne dass die Behördentermine rund um diese Dokumente einfacher oder weniger werden. Oder wir regen uns leidenschaftlich über Arbeitsblätter in Klassenzimmern auf. Statt zu überlegen, wie wir mit der Digitalisierung weg vom Fließbandunterricht und hin zu individuellen Lehrplänen zu kommen. Ob diese Inhalte dann auf personalisierten Arbeitsblättern ausgedruckt werden, ist ziemlich egal.

Und das Deutschlandticket? Das Ziel dieses Tickets ist es, mehr Menschen zu regelmäßigen ÖPNV-Nutzern zu machen. Digitalisierung bietet hier große Chancen. Zum Beispiel durch zugängliche Apps, die auch ÖPNV-Anfänger gezielt zum richtigen Gleis führen. Durch interessante Kombiangebote und personalisierte Abonnements. Und, bitte, durch Plattformen, die nicht beim ersten Ansturm in die Knie gehen.

Fahrkartenautomaten zu ersetzen, kann da auf unserer To-do-Liste eher unten stehen. Weil, wie die Informatikerin Julia Kloiber richtig bemerkt, „ein Papierticket mit QR-Code mindestens genauso digital ist wie die vorgeschlagene Chipkarte.“

Wer den Vorteil des Digitalen vor allen Dingen darin sieht, dass wir endlich eine „moderne, saubere Ablageform“ haben, will nur das elektrifizieren, was wir schon haben. Und das ist in vielen Fällen lange nicht gut genug.


  1. Transformationale Produkte – Der Code von digitalen Produkten, die unseren Alltag erobern und die Wirtschaft revolutionieren (Matthias Schrader, 2017) ↩︎

  2. Philip Evans argumentiert, dass die ganze Existenz einer Organisation sich daraus ergibt, die Grenz- oder Transaktionskosten zu reduzieren. Wenn es kaum noch etwas zu sparen gibt, wird diese Organisation irrelevanter und die Wertschöpfungskette kann zerbrechen – Rethinking Strategy for an Age of Digital Disruption (Philip Evans, 2014) ↩︎

Dieser Artikel erschien in Ausgabe 81 meines wöchentlichen Newsletters "Tech is Good". Du kannst ihn hier abonnieren.