1927 kam der Tonfilm. Keiner weiß, warum.

Vor neunzig Jahren schafften einige Visionäre den Stummfilm ab. Bis vor kurzem fand ich das nicht weiter überraschend. Ton und Film gehören eben zusammen. Doch die Tonfilm-Revolution ist vor allen Dingen eines: mysteriös.

Harry Warner sitzt in einem ausverkauften Kinosaal und macht sich vor Aufregung fast in die Hose. Es ist nicht seine erste Premiere, natürlich nicht. Aber an diesem Abend des 6. Oktober 1927 geht es um alles.

Harry, der älteste der Warner Brothers, hat Anfang des Jahres seine Anteile am Filmstudio verkauft. Er hat die Juwelen seiner Frau verpfändet und ist mit seiner Familie in eine kleinere Wohnung gezogen. Alles, um die Firma vor der Insolvenz zu bewahren.

Zeitgleich haben die Warner Brothers 500.000 Dollar in einen Film investiert, den auf der ganzen Welt zehn Kinos zeigen können. Für die Premiere in wenigen Minuten haben die Brüder das einzige Theater gewählt, das den Film ohne Pannen zeigen würde. Vielleicht zumindest. Das Theater gehört ihnen selbst. Es ist das einzige Theater, das sie besitzen.

Es ist eine bescheuerte Idee, dieser Musikfilm namens “The Jazz Singer”, aber Harry hat ihn trotzdem finanziert. Das ist schon immer sein Job in der Firma gewesen: die verrückten Projekte des Studios irgendwie ermöglichen. Um die Umsetzung kümmern sich seine Brüder Jack und Abe. Und der Ideengeber, der Innovator, das ist Sam. So auch bei diesem verflixten Tonfilm.

The Jazz Singer - Filmplakat von 1927
The Jazz Singer - Filmplakat von 1927

Sam Warner hat natürlich nie von Tonfilm, von “Talking Pictures” geredet - Harry hätte ihn sofort aus dem Fenster geschmissen1. Jeder der sich in den letzten Jahrzehnten am Tonfilm versucht hat, ist kolossal gescheitert, das ist ja schon sprichwörtlich. Sam hat ihm stattdessen die “Zusammenführung von der besten Musik, den besten Stimmen und der besten musikalischen Untermalung” verkauft. Sam hat für diesen Film gekämpft, lange bevor Harry davon wusste.

Gestern, einen Tag vor der Welturaufführung, ist Sam gestorben.

Es spricht vieles dafür, dass die Premiere in einer Blamage und finanziellen Katastrophe für Warner Brothers enden wird. Allein die Technik: eine Höllenmaschinerie. Jede der Musiknummern befindet sich auf einer separaten Filmrolle und der zugehörigen Schallplatte. Der Vorführer müssen insgesamt fünfzehn Rollen und Platten organisieren und dem Publikum übergangslos präsentieren. Das hat bis jetzt so gut wie nie funktioniert.

Jetzt gehen die Lichter aus. Der Film startet.

Ihr habt noch nichts gehört!

Es läuft zunächst ganz gut. Nicht außergewöhnlich, nicht revolutionär, aber gut. Nach ein paar Minuten entspannt sich Harry etwas.

Der Film hat ein Ass im Ärmel, den Star-Sänger Al Jolson. Nach jeder seiner Musiknummern gibt es fröhlichen Beifall. Wie bei einer Broadway-Aufführung.

Hin und wieder enthält der Film etwas, das Harry nur widerwillig geduldet hat: Sprechsequenzen. In Summe nicht mehr als zwei Minuten und kein richtiger Dialog, bloß improvisiertes Geplapper von Johnson. Darunter der Satz, der schon auf der Bühne sein Markenzeichen war: “Wait a minute, wait a minute, you ain’t heard nothin’ yet”. Ihr habt noch gar nichts gehört! Als Jolson das sagt, applaudiert das Publikum begeistert.

Und dann kommt sie, die Sequenz, die die Filmindustrie auf den Kopf stellen wird:

Ein winziges Gespräch, zwischen der Hauptfigur und seiner Mutter. Plötzlich ist es, als ob die beiden auf einer Theaterbühne stehen, direkt vor der ersten Stuhlreihe. Das Publikum ist erst fassungslos, dann hysterisch.

Noch lachen sie: Stummfilmstars wie Monty Banks mit dem Tonfilm-Revolutionär Sam Warner (eingekreist). Mit dem Tonfilm zieht sich Banks aus dem Schauspiel zurück. Zu starker italienischer Akzent.
Noch lachen sie: Stummfilmstars wie Monty Banks mit dem Tonfilm-Revolutionär Sam Warner (eingekreist). Mit dem Tonfilm zieht sich Banks aus dem Schauspiel zurück. Zu starker italienischer Akzent.

Harry traut seinen Ohren nicht. Das hier mag der x-te Tonfilm-Versuch sein, aber irgendetwas ist anderes. Hier beginnt etwas Neues, großes. Der Applaus will nicht enden.

Drei Jahre später. Die Warner Brothers besitzen 700 Theater. Die Hälfte aller Kinos der USA ist "wired", also umgerüstet auf Tonfilm. Bald wird sich niemand mehr vorstellen können, dass es einmal Stummfilme gab.

Wer brauchte bitte Stummfilme?

Wahrscheinlich hast du dir schon mal einen alten Hollywood-Klassiker angeschaut.

Den hier zum Beispiel (von 1938):

Oder den (1937):

Oder den (1933):

Aber die Blockbuster, die es nur ein paar Jahre davor gab? Kennt keiner. Okay, vielleicht Filmhistoriker und Hardcore-Cineasten. Aber wer sonst tut sich ernsthaft Stummfilme an? Wer liest gerne Dialoge über "Zwischentitel", man ist doch nicht im Kasperletheater?!

Ganz klar: schon den Kinogängern vor neunzig Jahren muss klar gewesen sein, dass der Stummfilm nur ein erster, niedlicher Prototyp war.

Hört sich logisch an - war aber nicht so.

1927 konnten sich nur wenige Menschen vorstellen, dass der Stummfilm eine Upgrade benötigte. Die Zuschauer nicht und die Produzenten schon mal gar nicht. Was daran lag, dass die Sache einfach funktionierte. Blockbuster, Mega-Kinos, absurd gut bezahlte Filmstars - Hollywood war sozusagen fertig. Ganz ohne Ton.

6.200 Sitze, 150qm Leinwand, kein einziger Lautsprecher. Mega-Kinos wie das Roxy-Theater waren für Stummfilme gebaut. Quelle: http://cinematreasures.org/theaters/556/photos/94574
6.200 Sitze, 150qm Leinwand, kein einziger Lautsprecher. Mega-Kinos wie das Roxy-Theater waren für Stummfilme gebaut. Quelle: http://cinematreasures.org/theaters/556/photos/94574

Selbst künstlerisch waren die Filme auf einem Höhepunkt angelangt: dicht erzählt, thematisch komplex, visuell beeindruckend. Filme wie “Sunrise” hatten die Kunst, eine Geschichte ohne Worte zu erzählen, so perfektioniert, dass sie beinahe komplett auf Zwischentitel verzichten konnten.

Der Stummfilm war eine Kunstform, keine Notlösung.

Aber dann kam er doch, der Tonfilm, und er änderte alles. Er war “keine Evolution, sondern eine Mutation, eine komplett andere Kunstform”2.

Der Tonfilm veränderte nicht nur, wie Filme produziert und vorgeführt wurden. Er definierte neu, was ein Film ist. Wenn wir einen Stummfilm schauen, werden wir zu einer Art “Co-Regisseur”, der im Kopf Soundeffekte und Stimmen hinzufügt. Bei einem Tonfilm sind wir nur noch passive Theaterzuschauer. Und mal ehrlich – genau das wollen wir sein.

Dass die Tonfilm-Revolution 1927 also doch begann, und zwar von jetzt auf gleich, ist also schon erstaunlich. Wirklich verblüffend ist, wie schnell sie abgeschlossen war.

Das ging alles SO schnell

William Fox, Gründer der späteren 20th Century Fox, war einer der großen Wegbereiter des Tonfilms. 1930 prophezeite sein Produktionschef, dass bis Jahresende dreitausend US-Kinos Tonfilm-bereit wären. Die Leute lachten ihn aus. Am Ende des Jahres waren es zehntausend3.

Der Wechsel zum Tonfilm ging so schnell über die Bühne, dass selbst die visionärsten Produzenten und Künstler davon überrollt wurden. Sie mussten zusehen, wie ihre großen Monumentalfilme, die zig Millionen Dollar gekostet hatten, plötzlich nicht mehr vorzeigbar waren.

Ohne Charlton Heston, aber trotzdem teuer: 125.000 Schauspieler, Statisten und Pferde, Seeschlachten, Wagenrennen und 48 Kameras benötigte der Stummfilmklassiker. Zwei Jahre später kam der Tonfilm. Ups.
Ohne Charlton Heston, aber trotzdem teuer: 125.000 Schauspieler, Statisten und Pferde, Seeschlachten, Wagenrennen und 48 Kameras benötigte der Stummfilmklassiker. Zwei Jahre später kam der Tonfilm. Ups.

Selbst viele der frühen Tonfilme verstaubten im Rekordtempo. Drei Jahre nach der Premiere brachten die Warner Brothers The Jazz Singer noch einmal ins Kino. Nach ein paar Tagen zogen sie ihn wieder zurück. Er wirkte peinlich, wie aus einem anderen Jahrhundert. Das ist für uns kaum vorstellbar – also würden wir heute einen Film, der vor drei Jahren ins Kino kam, nur noch unter Fremdschämen schauen könnten.

Womit wir bei uns wären. Gibt es eine heutige Entwicklung, die vergleichbar ist?

Gab's so was noch mal?

Die letzte “Revolution” des Films war das 3D-Revival. Das sagte zumindest die Filmindustrie lange Zeit.

Tatsächlich gibt es Parallelen: ähnlich wie beim Tonfilm hatte es immer mal Versuche gegeben, 3D im Kino zu etablieren und wieder war es ein einzelner Film, nämlich Avatar, der den Hype begründete. Aber was steckt hinter diesem Hype? In Zahlen? Das hier:

Ein gutes Drittel der Leinwände in den USA ist 3D-fähig, daran hat sich in den letzten Jahren nichts geändert4. Hollywood produziert weiterhin mehr 2D- als 3D-Filme. Das ist die Statistik zum 3D-Hype.

Und nun lege ich mal die Statistik vom Tonfilm darüber:

Der Tonfilm begann mit einer Handvoll von Kinos in den ganzen Vereinigten Staaten und machte sich innerhalb von drei Jahren alternativlos.

In diesen drei Jahren zerstörte er Hunderttausende von Jobs, beendete Karrieren und stellte die Filmschaffenden vor teils unüberwindbare Hindernisse. Aber er kam trotzdem. Was wir heute “Disruption” nennen, hat sich für die Beteiligten nach einer Zeit im Irrenhaus angefühlt.

Um diese abenteuerlichen und irren drei Jahre geht es im nächsten Teil. Ich verspreche schon mal: Das Rätsel der Tonfilm-Revolution wird noch ein gutes Stück größer werden.

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  1. If I said ’talking pictures’ to Harry he would [have] thrown me out of the window”. Eyman, Scott. The Speed of Sound: Hollywood and the Talkie Revolution 1926-1930, S.69  ↩︎

  2. Eyman, Scott. The Speed of Sound: Hollywood and the Talkie Revolution 1926-1930, S.22  ↩︎

  3. Film Daily Yearbooks 1931, The Film Daily http://archive.org/stream/filmdailyyearboo00film_1#page/n3/mode/2up  ↩︎

  4. Theatrical Market Statistics 2016, Motion Picture Association of America, Inc. (MPAA) http://www.mpaa.org/wp-content/uploads/2017/03/MPAA-Theatrical-Market-Statistics-2016_Final.pdf  ↩︎