Der Hype um KI nervt. Aber er ist wichtig.
LinkedIn ist nicht die Plattform für tiefgehende Analysen, aber dafür verrät ein Blick in den Feed immer und sofort, welches Thema in der Businesswelt trendet. Und das ist zur Zeit, wenig überraschend, Künstliche Intelligenz:
Hypes nerven, keine Frage. In ihrem Fahrwasser wimmelt es von selbsternannten Experten und naiven Prognosen. Je eher der Hype vorbei ist, desto besser. Oder?
Ich möchte ich hiermit eine Lanze für Hypes brechen. Sie sind wichtig und wir brauchen sie.
Hypes schaffen Infrastruktur
Hypes und ihre große Schwester, die Spekulationsblase, gab es in der Geschichte fast immer dann, wenn eine neue Technologie auftauchte. Zweihundert Jahre, bevor die Dotcom-Blase unzählige Unternehmen in den Ruin trieb, ergriff England zum Beispiel das sogenannte „Kanalfieber“. Kanäle galten als Wundertechnologie für mehr Handel und Investoren finanzierten einen Kanalbau nach dem anderen – fast immer mit unrealistischen Ambitionen. 50 Jahre später passierte beinahe das gleiche, diesmal zu Land. Die “Railway Mania”, eine der größten Spekulationsblasen der Geschichte, überschwemmte England mit neuen Eisenbahngesellschaften, die sich vor Investoren kaum retten konnten.
Hypes und Spekulationsblasen beruhen darauf, dass wir überoptimistisch in die Zukunft schauen. Und dementsprechend über-investieren. Diese Investments bestehen klassischerweise aus überteuerten oder unzuverlässigen Aktien, aber wir können noch mehr investieren als Geld. Unternehmen können zum Beispiel ihre Strategie an einem Hype ausrichten (Grüße an Facebook Meta 👋), Privatpersonen können einfach ihre Zeit und Energie investieren.
Das Ziel ist immer das gleiche: Gewinn. Manchmal kombiniert mit dem Wunsch, eine „bessere Welt“ zu bauen, aber da wäre ich vorsichtig. Genau die Web3-Investoren, die uns jahrelang das Evangelium vom „besseren Internet“ predigten, haben dank des aktuellen Twitter-Meltdowns die Chance, ihren dezentralen Traum zu verwirklichen. Doch sie ziehen in Scharen dem neuen Stern von Bethlehem hinterher und der trägt den Namen: Künstliche Intelligenz. 1
Man kann den Investoren deswegen Flatterhaftigkeit vorwerfen, aber ihre überoptimistischen Investitionen sind wichtig, vielleicht sogar notwendig.
Die Ökonomin Carlota Perez argumentiert in ihrem Buch „Technological Revolutions and Financial Capital“, dass Spekulationsblasen notwendig sind, damit sich eine Technologie überhaupt durchsetzen kann. Das liegt daran, dass Technologien immer auf Infrastruktur beruhen. Die erste industrielle Revolution brauchte Kanal- und Straßennetze, die zweite brauchte Eisenbahnen, Häfen und Postdienste. Beim Aufbau solcher Netze gibt es ein Henne-Ei-Problem. Zu Anfang sind sie nicht groß genug, um schon rentabel zu sein. Aber wenn niemand investiert, werden sie auch nicht größer. „Die Blase“, sagt Perez, „sorgt für die notwendige Vermögenspreisinflation, sodass die Anleger Kapitalgewinne erwarten können, auch wenn es noch keine Gewinne gibt.“ Oder kurz gesagt: Das Kanalfieber, die Railway Mania und auch die Dotcom-Blase waren notwendig, damit die jeweiligen Technologien in Schwung kamen.
Willkommen im KI-Schlaraffenland
Im Fall von Künstlicher Intelligenz sind sogenannte Modelle die Infrastruktur, auf denen alles beruht. Und bis vor wenigen Monaten machten allein die Rechnerkosten KI-Experimente zu einem Großprojekt. 2
Doch der aktuelle Hype hat zu zwei (oder eher zweieinhalb) Überraschungen geführt
- Die großen KI-Player bemühen sich gerade um Vorherrschaft in einem stark wachsenden Markt. Mit der Folge, dass Open AI den Zugriff zu ihrem Modell, einem der besten im Markt, geradezu verschleudert.
- Als Countermove hat Facebook in dieser Woche ein Modell veröffentlicht, das auch auf handelsüblichen Laptops läuft. Dieses Modell ist nicht Open Source und nicht für die kommerzielle Nutzung freigeben, allerdings wurde nur wenige Tage nach der Veröffentlichung ein offenes Duplikat des Modells geleakt. Ups!
Damit ist das Rennen eröffnet. Ich bin mir sicher, dass wir in den nächsten Monaten rasante Fortschritte in Sachen KI-Infrastruktur erleben werden. Und ohne den Hype wäre es wahrscheinlich nicht dazu gekommen.
Hypes schaffen Ideen
Jetzt haben wir die Infrastruktur – was folgt daraus? Das sehe ich in meinem Nachrichtenfeed: es vergeht kein Tag, indem mir nicht ein neues AI-gestützes Produkt unterläuft. Ganz zu schweigen von den vielen Apps, die nun wenigstens einen „KI-Button“ in ihre Produkte einbauen. Entrepreneure rund um den Erdball fragen sich, wie sie aus der neuen Technologie ein Produkt machen soll. Und “wenn man wissen will”, schrieb Benedict Evans vor einigen Tagen, „was das nächste große Ding ist, sollte man danach suchen, woran die Geeks am Wochenende arbeiten.“ 3
Da ich nicht im Silicon Valley wohne, ist mein persönlicher Indikator der Open Friday bei meinem Arbeitgeber sipgate. Jeder zweite Freitag bietet Raum für Experimente und Projekte fernab des Tagesgeschäfts – und es vergeht zurzeit kein Open Friday, an dem nicht irgendjemand ein AI-Projekt startet (Metaverse- oder Blockchain-Projekte habe ich übrigens nie gesehen).
Nur, ist das überhaupt der richtige Ansatz? Entsteht Innovation, wenn wir uns jetzt Probleme ausdenken, die wir mittels einer neuen, hippen Technologie lösen könnten? Das ist genau der Vorwurf, den sich Blockchain- und Web3-Vertreter immer wieder anhören müssen: sie suchen sich einen Nagel für den Hammer, den sie bereits in der Hand haben.4 Richtiger klingt die andere Richtung, nämlich dass ein Problem (Nagel) auftaucht, und wir dann die Lösung (Hammer) suchen.
Was die Kritiker vergessen (oder nicht wissen): der Weg der meisten erfolgreichen Erfindungen und Produkte verläuft genau andersherum. Erst wird eine überraschende Lösung gefunden. Dann ein passendes Problem gesucht. Diese Umkehrung ist ein elementares Prinzip des Erfindens – laut dem Erfinder Dietmar Zobel vielleicht sogar das wichtigste. Die Geschichte der letzten Jahrzehnte ist dementsprechend voller Hammer, für die es noch keine Nägel gab. Als zum Beispiel Intel 1971 ihren ersten Mikroprozessor vorstellte, war das Interesse allgemein gering, weil es keine naheliegenden Probleme gab, die man damit lösen konnte. Auch der Laser, eine der größten Erfindungen des letzten Jahrhunderts, wurde als Lösung bezeichnet, „die nach einem Problem suchte“. 5
Dass Unternehmer und Erfinder sich jetzt den Kopf darüber zerbrechen, wie sie KI-Technologie in ihre Produkte einbauen, ist gut. Und dazu benötigte es den Hype.
Eigentlich gibt es die aktuellen Möglichkeiten nämlich schon eine geraume Zeit. Der ehemalige GitHub-CEO Nat Friedman zeigte sich vor einiger Zeit überrascht, dass Unternehmer nichts aus dem „Überfluss an Möglichkeiten“ (capability overhang) machen würden. 6 Und beinahe enttäuscht war Sam Altman, der Geschäftsführer von Open AI, als auch ein Jahr nach der Einführung von GTP-3 niemand Produkte wie ChatGPT baute. Also machte seine Firma es selbst – und startete damit den Hype. 7
Was bleibt vom Hype?
Das meiste Volumen dieses Hypes besteht aus heißer Luft. Das liegt in der Natur der Sache. Aber nicht alles ist heiße Luft.
Die meisten der Kanäle und Eisenbahnen des 19. Jahrhunderts wurden nie fertig gebaut. Einige aber doch, und sie bildeten die Grundlage einer technischen Revolution. Die meisten Internetunternehmen überlebten die Dotcom-Blase nicht. Aber einige wie Amazon und eBay sehr wohl.
Wir brauchen den Hype. Er bringt die Zukunft in Schwung.
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„Even if you could obtain the GPT-3 model you would not be able to run it on commodity hardware—these things usually require several A100-class GPUs, each of which retail for $8,000+“ – .Large language models are having their Stable Diffusion moment (Simon Willison, 2023) ↩︎
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Benedict Evans Newsletter, Nummer 480 ↩︎
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„Web3 ist ein Hammer auf der Suche nach Nägeln“, sagt Crypto-Kritiker Jürgen Geuter unter anderem in diesem Podcast ↩︎
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Quelle: A century of nature : twenty-one discoveries that changed science and the world : Garwin, Laura : Free Download, Borrow, and Streaming : Internet Archive ↩︎
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Quelle: An Interview With Daniel Gross and Nat Friedman About the Democratization of AI ↩︎
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„We had the model for ChatGTP in the API for 10 months or something before made ChatGTP. And I sort of thought someone was going to just build it“ – StrictlyVC in conversation with Sam Altman – Part Two (Connie Loizos, 2023) ↩︎