Hätte das Internet die DDR gerettet?

Die DDR verpasste die Digitale Revolution um Haaresbreite. Was, wenn der SED-Staat noch einige Jahre länger existiert hätte? Ein Gedankenspiel.

Ein halbes Jahr bevor die Berliner Mauer fiel veröffentlichte Tim Bernes Lee seine Idee eines flexibles Hypertext-Systems, das den Wissensaustausch unter Forschern verbessern sollte. Sein Proposal gilt als Beginn des World Wide Webs und erster Meilenstein der Digitalen Revolution. Zeitlich überschnitten sich diese Revolution und die Existenz der DDR nur für wenige Monate. Dann scheiterte der “Staat der Arbeiter und Bauern” an der “friedlichen Revolution”.

Was aber, wenn die DDR ihr Ende noch ein wenig hinausgezögert hätte, vielleicht zehn Jahre? Hätten die kommenden Innovationen – vom Nokia 3310 bis zu Wikipedia – der DDR den Todesstoß versetzt oder sie im Gegenteil gerettet?

Für den Nachfolgeroman zu meinem Zeitreise-Thriller “Das Register” bin ich diesen Fragen nachgegangen. Die Antworten auf dieses Gedankenspiel waren überraschend.

Software als Lösung für die Mangelwirtschaft

Die DDR war, besonders in der zweiten Hälfte ihrer Existenz, ein Billig-Lohnland. Zahlreiche Verkaufsschlager aus dem Quelle- und Ikeakatalog wurden in der DDR produziert, leider oft von politischen Gefangenen. Einige Historiker gehen davon aus, dass sich dieser Trend in einer heutigen DDR fortgesetzt hätte.

Der Hemmschuh für wirtschaftliches Wachstum in der DDR war allerdings, dass die Produktionskosten durch veraltete Technologien und Maschinen wuchsen, statt statt dass sie sanken. Das bremste nicht nur den Export ins Ausland, sondern war auch der Hauptgrund für die Mangelwirtschaft im eigenen Land. Hätte die Digitalisierung daran etwas geändert.

Zunächst einmal nicht. Tatsächlich pumpte die DDR noch Mitte der 80er immense Summen in die Entwicklung von Mikro-Elektronik (“Projekt Mikron”), aber der Vorsprung westlicher Hersteller war zu diesem Zeitpunkt schon uneinholbar groß. Das Knowhow einfach einzukaufen war keine Option, denn wegen des COCOM-Embargos konnte die DDR keine Hochtechnologien importieren. Höchstens die Software des Westens konnte man illegal kopieren und weiterentwickeln, was die DDR auch tat. In der internationalen Zusammenarbeit hätte diese “Strategie” natürlich schnell für Probleme gesorgt.

Aber eine andere Facette der digitalen Revolution hätte die Karten vielleicht wirklich neu gemischt: der Siegeszug freier Software. Die meisten Geräte, die wir heute nutzen, basieren zu einem großen Teil auf quelloffener, frei verfügbarer Software, namentlich dem Betriebssystem Linux. Beinahe keine Applikation kommt ohne Open Source aus – und es gibt keine wirksame Möglichkeit, Diktaturen und totalitären Systemen den Gebrauch dieser Software zu untersagen.

Nicht nur die Programme und Betriebssysteme stehen heute jedem zur Verfügung, sondern auch exzellente Literatur dazu, wie man sie bedient und weiterentwickelt. Die DDR hätte dieses Wissen mit einem erprobten Ausbildungssystem koppeln können. Die “Technische Intelligenz” der DDR hatte ein hohes Ansehen, bekam eine eigene Zusatzrente und war übrigens weitaus diverser aufgestellt als in den meisten Ländern heute (1982 betrug der Anteil der Studentinnen im Fach Maschinenbau 21 Prozent, im wiedervereinigten Deutschland liegt er heute unter 8 Prozent). Jugendliche wurden durch Veranstaltungen wie die “Messe der Meister von Morgen” dazu ermutigt, Techniker oder Erfinder zu werden und jeder Erwachsene konnte sich jederzeit weiterbilden. Was viele auch taten. Das Problem: Es gab nicht genug Stellen für die vielen Fachkräfte und Ingenieure.

Softwareentwicklung hätte der gesuchte, neue Wirtschaftszweig werden können. Eine Branche für die man keine Rohstoffe und keine Maschinen brauchte, sondern Wissen und Fachkräfte.

Die Nachfolgestaaten der Sowjetunion haben heute mit genau dieser Strategie Erfolg: IT Outsourcing nach Osteuropa ist bei westeuropäischen Unternehmen zur Standardoption geworden.

Die Technokraten des SED hätten den Software-Siegeszug begrüßt. Aber auch den Siegeszug des Internets?

Das Internet als Unterhaltungsmedium

Das WWW und die DDR lernten sich nie kennen, aber das Internet stand in den Startlöchern. Tatsächlich hatte die DDR so etwas wie eine eigene Top Level Domain – .dd – und in Jena nutzte die Universität eine Intranet-Lösung mit der Domain “uni-jena.dd”. Die Wissenschaftler kommunizierten darüber mit dem Kombinat VEB Carl Zeiss Jena.

Hätte das Internet den Gegnern des Regimes zu mehr Öffentlichkeit verholfen? Der Verdacht liegt nahe. “Die DDR wäre schneller untergegangen”, sagt der Stasi Forscher Helmut Müller-Enbergs, weil sich “die oppositionelle Szene in Chatgruppen vernetzt” hatten.

Vielleicht macht man es sich mit dieser Prognose aber auch etwas zu einfach. Natürlich gab es eine weitreichende Zensur in der DDR, die so weit ging, dass man die Kopiergeräte in den Bibliotheken nur unter strenger Beaufsichtigung nutzen durfte.

Auf der anderen Seite gab es aber auch große, geduldete Löcher in der Zensur. Allem voran: das Westfernsehen. ARD und ZDF zu schauen, war offiziell nie verboten und nur einige Flecken rund um Dresden und Rügen hatten keinen Empfang – im Volksmund das sogenannte “Tal der Ahungslosen”. Interessant ist, dass laut damaligen Umfragen Bürger mit Zugang zum Westfernsehen nicht unglücklicher, sondern zufriedener mit ihrer Situation und dem SED-Regime waren. Wissenschaftlicher erklären diesen seltsamen Zusammenhang damit, dass ddas Fernsehen als große Realitätsflucht-Werkzeug diente. Die abendliche Ration Traumschiff und Schwarzwaldklinik machte den nächsten Tag unter der Diktatur erträglich. Oder erträglicher.

Das Internet hätte diese Funktion, zumindest zum Teil, übernommen. Tatsächlich folgen autoritäre Staaten heute der gleichen Strategie wie die DDR. Sie lassen große Teile des Internet “hinein”, weil sie es als Unterhaltungswerkzeug schätzen, und zensieren die kritischen Teile. Mit Zensur-Software, die man bequem bei amerikanischen Unternehmen einkauft.

Natürlich, verschlüsselte Kommunikation hätte die SED ziemlich sicher verboten. Auch die sozialen Medien amerikanischer Plattformen. Aber Offline-Netzwerke gab es schon zu DDR-Zeiten und die Stasi kam nicht mehr hinterher, sie zu überwachen - oder gar zu zersetzen. “Der Stasi-Apparat”, so der Historiker Stefan Wolle, “wurde technisch immer perfekter und politisch immer wirkungsloser.” 1

Wenn es die DDR also irgendwie geschafft hätte, eine Revolution zu verhindern, dann hätte das Internet die Situation wahrscheinlich nicht großartig veärndert.

Aber die Erfahrung in Sachen Überwachung hätte der DDR vielleicht einen anderen Vorteil beschert …

Überwachung als Hebel für Vernetzung

In jedem modernen Staat sind Daten eine wichtige Grundlage für Entscheidungen. Je umfangreicher die Daten, desto besser die Algorithmen, die diese Entscheidungen beeinflussen oder gleich vorwegnehmen – von weitreichenden politischen Entscheidungen bis zur ärztlichen Therapieempfehlung.

Das große Datensammeln steht natürlich in einem Spannungsfeld zum berichtigten Interesse nach Privatsphäre und Freiheit. Aber was, wenn man dieses Interessen, nun ja … ignoriert? Wenn der Staat zu jedem Bürger alle verfügbaren Informationen speichert, in einer großen, zentralen Datenbank? Die darauf basierenden Algorithmen würden hervorragende Ergebnisse liefern. Der Historiker Yuval Noah Harari vermutet deswegen sogar: “Der große Nachteil autoritärer Regime im 20. Jahrhundert – ihr Wunsch alle Informationen und Macht zu bündeln – könnte ihr entscheidender Vorteil im 21. Jahrhundert sein.”

Die DDR hatte in jedem Fall jahrzehntelage Erfahrung im Datensammeln. Allein die verbliebenen Stasi-Akten würden, aneinandergereiht, von Berlin bis Leipzig erreichen. Diese Akten wurden ergänzt durch unzählige Umfragen, Studien und Analysen anderer Institute. Man muss der SED zugute halten, dass sie diese Daten nicht nur zum Selbstzweck oder zur Unterdrückung unerwünschter Meinungen nutzte. Daten waren das “Ohr zum Volk”, anhand der die Regierung ihre Projekte priorisierte. Zu diesem Zweck wertete sie auch das einzelne Feedback der Bürger, die sogenannten “Eingaben”, aus.

Nun arbeitete die DDR natürlich mit einer völlig veralteten, ineffizienten Datenverarbeitung. Man stelle sich vor, sie hätte all ihre Prozesse digitalisieren können und jedem Bürger ein verpflichtendes, biometrisches Armband verpasst.

Natürlich wäre totale Überwachung die Folge gewesen – mit schrecklichen Folgen. Aber ziemlich sicher auch einer verbesserte Wohlfahrt der DDR-Bürger. Intelligentes Carsharing für alle ? Check. Ein exzellentes System zur Verhinderung von Krankheitswellen? Check.

Viele Herausforderungen, an denen kapitalistischen Demokratien schon eine ganze Weile knabbern, hätte eine Software- und datengetriebene DDR vielleicht schon heute gelöst. Auf ihre besondere Art natürlich …

Die Grenzen des Gedankenspiels

Mein Gedankenspiel beruht darauf, dass die DDR noch einige Jahre existiert hätte. Und daran scheitert dieses Gedankenspiel letztendlich auch. Die DDR war 1989 nicht mehr überlebensfähig. Ein bankrotter Staat, den nur ein Wunder hätte retten können. Alternativszenarien gehen deswegen meist von einer plötzlichen Rettung durch neue Rohstoffquellen aus. Im Roman “Schwarzes Gold aus Warnemünde” findet die DDR zum Beispiel Erdöl in der Ostsee, im Essay “Herrliche Zeiten” von Karsten Kuschel ist eine riesige Goldader die Rettung.

Auf der anderen Seite: Geschichte erscheint nur im Rückblick geradlinig und logisch. Manchmal können kleine Zufälle und Entscheidungen den Lauf der Jahrzehnte verändern. Und wären sich die digitale und sozialistische Revolution früher begegnet – wer weiß zu welchen positiven und schrecklichen Resultaten diese Begegnung geführt hätte.


Bildnachweis Titelbild: Bundesarchiv, Bild 183-1988-0912-400 / Franke, Klaus / CC-BY-SA 3.0, “Übergabe der 1-Megabit-Speicherschaltkreise“


  1. Stefan Wolle, Die heile Welt der Diktatur ↩︎