Der peinliche Nachteil der Wissensgesellschaft

Ein Gedankenspiel: Wir schicken zwei Menschen auf Zeitreise.

1) Albert Einstein

Was wäre passiert, wenn man den jungen Einstein für fünf Tage in einen abgelegenen Winkel der Altsteinzeit gesteckt hätte? Antwort: Ein toter Körper wäre zurückgereist (und die Sache mit der Relativitätstheorie hätte sich jemand anders überlegen müssen). “Man muss schon sehr, sehr gut sein, um ein paar Tage in der Wildnis zu überleben”, sagte Suzan Collins nach den Recherchen für “Hunger Games”. Wenig Chancen für Einstein.

2) Ein Baby der Altsteinzeit.

Was wäre passiert, wenn dieses Baby zu uns gereist wäre - nicht nur für ein paar Tage, sondern für immer? Antwort: Nichts besonderes. Das Steinzeit-Baby wäre Informatiker, Versicherungsvertreter oder Kfz-Mechaniker geworden, ohne groß aufzufallen.

Warum ist das so? Sind wir denn wir nicht um ein vielfaches schlauer als ein Steinzeitmensch? Nein. Es spricht einiges dafür, dass wir als einzelne ungeschickter, langsamer und dümmer geworden sind.

Trotzdem sind wir von einer Welt umgeben, die unseren Ururgroßeltern als eine Art absurder Science Fiction erschienen wäre - weil die Menschheit als Ganzes natürlich intelligenter ist als jemals zuvor. Der Homo Sapiens hat sich zu einem “Homo Colossus” entwickelt - einem gigantischen Organismus, der immer mehr Wissen aufhäuft und dabei auf Scharen von Vordenkern aufbaut. Isaac Newton sagte einmal: “Wenn ich weiter geblickt habe, so deshalb, weil ich auf den Schultern von Riesen stehe.”

Und da stehen du und ich nun - auf den Schultern von Riesen. Die Konsequenz? Das bringt ein anderer Mann, Ian Malcolm, wunderbar auf den Punkt:

Genau, Ian Malcolm, der charmante Chaostheoriker aus Jurassic Park. In einer der Szenen, die einen Zwölfjährigen zu Tode langweilen (wann frisst der T-Rex endlich die Ziege ?!), erklärt Malcolm …

“ … was das Problem bei dieser wissenschaftlichen Macht ist, die Sie hier anwenden: All das ist Ihnen gewissermaßen in den Schoß gefallen. Sie haben gelesen, was andere erforscht haben und dann haben Sie den nächsten Schritt gemacht. Das Wissen ist nicht auf Ihrem eigene Mist gewachsen und deshalb übernehmen Sie auch keine Verantwortung. Sie stützen sich auf die genialen Forschungsergebnisse anderer (Original: You stood on the shoulders of geniuses), um möglichst schnell Ihr Ziel zu erreichen und bevor Sie überhaupt wussten, was Sie da hatten, ließen Sie es patentieren und vermarkten es und kleben ein Etikett auf eine Plastikdose und verhökern sie.”

25 Jahre nach Jurassic Park hat sich daran nichts geändert. Zwar können wir (noch) keine Dinos klonen, doch der Fortschritt unserer Wissensgesellschaft wird immer rasanter. Der Riese, auf dem wir stehen, wächst und wächst - und die meisten Durchbrüche versteht der Einzelne nicht. Das ist der geheime Nachteil der Wissensgesellschaft.

Oder ist es gar kein Nachteil? Darüber kann man streiten. Ich finde jedenfalls, wir sollten zumindest die Dinge begreifen, die wir jeden Tag nutzen. Wir haben sie zwar nicht erfunden, aber sie liegen in unserer Verantwortung - nicht in der von Vordenkern, die längst tot sind. Mal ein paar Beispiele von Dingen, die wir eigentlich verstehen sollten:

“Fortschritt lebt vom Austausch des Wissens” sagte Albert Einstein, der glücklicherweise niemals in einem verlassenen Wald gelandet ist. Auf den Schultern von Riesen, fällt uns der Fortschritt allzu häufig häufig in den Schoß. Das ist okay.

Aber wir sollten wissen, was wir tun. Denn nur dann können wir auch Verantwortung übernehmen.

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