Das Jahr der Künstlichen Intelligenz –was bedeutet das?

2023 wird „das Jahr der KI“, ein Wendepunkt in der Geschichte der Künstlichen Intelligenz – so liest man zurzeit. Nur was heißt das genau? Wie sieht die kurz- und mittelfristige Zukunft aus? An dieser Stelle machen wir oft einen beliebten Denkfehler: um die Zukunft vorherzusagen, denken wir die Gegenwart einfach weiter. Das ist nur selten richtig.

Zäsuren und was danach kommt

Das lateinische Wort caesūra – „schneiden, fällen“ – prägt unser Bild von Geschichte. „Einschneidende Ereignisse“ zerteilen förmlich die Geschichte, in ein vorher und ein nachher. Solche Zäsuren sind ein beliebtes Werkzeug von Historikern, sie teilen damit Weltgeschichte in handliche Portionen ein – in der Rückschau wohlgemerkt. Zeitgenossen nehmen Zäsuren oft nicht als solche wahr.

Hin und wieder aber schon: Als die Dampfmaschine ihren Durchbruch feierte, sahen die Menschen ganz richtig voraus, dass dies die Welt verändern würde. Auch bei der Entdeckung der Kernspaltung, der Erfindung des Radios oder dem Beginn der bemannten Raumfahrt spürten alle, dass gerade Geschichte gemacht wurde.

Und dann haben sie Zukunftsbilder entworfen, die völlig falsch waren.

Wir gondeln heute nicht mit dampfbetriebenen Fahrrädern und Luftschiffen durch die Welt. Schiffe, Züge und Autos bewegen sich nicht mit Atomenergie, wie in den 60ern prognostiziert (und teilweise gebaut!) und wir fliegen auch nicht zum Urlaub auf den Mond. Der Denkfehler war, die Gegenwart einfach fortzuschreiben, zu extrapolieren – wie eine Straße, die den gleichen Berg immer weiter hinaufführt.

Aber oft leiten Zäsuren einen Paradigmenwechsel ein. Die Geschichte führt dann nicht weiter den Berg hinauf, sondern gräbt sich einen Tunnel hindurch. Ein Paradigmenwechsel verändert, was möglich ist – und was relevant ist. Firmen mögen zum Beispiel genau die gleichen Wettbewerbsvorteile wie zuvor haben, aber diese Vorteile sind unwichtig geworden. Die Auswirkungen eines Paradigmenwechsels sind schwer vorherzusagen.

Ganz anders funktionieren Trends: was heute klein ist, wird morgen groß sein. Ein Beispiel dafür ist die Digitalisierung. Wer zu Beginn des Computerzeitalters voraussagte, dass im Laufe der Jahrzehnte einfach alles digitalisiert werden würde, lag damit … goldrichtig. Deswegen sind die Science-Fiction-Visionen der 60er bis 80er so beeindruckend genau. Sie sahen vom Internet über Smart Watches bis zur Fingerabdruckprüfung alles voraus, was heute für uns Alltag ist.

Wir stehen am Anfang … aber wovon?

Wenn jetzt KI-Werkzeuge fühlbarer Teil unseres Alltags werden, ist das eine Zäsur. Aber was bedeutet das, für die Welt in 10 Jahren? Das wissen wir noch nicht, weil unklar ist, ob wir am Anfang eines echten Trends stehen.

  1. Unklar ist das Interface. Die aktuelle KI-Welle kommt in Form von Chat-Interfaces und „Prompts“ daher – Anweisungen in natürlicher Sprache, statt über Buttons und Regler. Mag sein, dass wir gerade den Durchbruch von solchen Interfaces erleben. Aber vielleicht auch nicht.
  2. Unklar sind die Fähigkeiten: ChatGPT kann schon jetzt einigermaßen gut Medizinexamen bestehen, aber wird es in 3 Jahren dreimal besser sein? Und in fünf Jahren den Arzt ersetzen? Selbst die Macher hinter ChatGPT mühen sich in Erwartungsmanagement. Open AI CEO Sam Altman sagte neulich in einem Interview: „Die Leute betteln darum, enttäuscht zu werden.“
  3. Unklar sind die Auswirkungen: natürlich lassen sich jetzt hervorragende Dystopien denken – wie immer, wenn man die Gegenwart einfach ins Extreme zieht. Aber die Zukunft wird uns ganz sicher überraschen.

Ja, 2023 könnte wirklich das Jahr der Künstliche Intelligenz werden – eine echte Zäsur. Danach fühlt es sich zumindest an. Was das bedeutet? Unklar. Wie immer gilt: Die Zukunft kommt nicht einfach, wir gestalten sie.

Literatur

Dieser Artikel erschien in Ausgabe 70 meines wöchentlichen Newsletters "Tech is Good". Du kannst ihn hier abonnieren.